Station 5: Herosé-Park – Aus dem Tagebuch von Trudy Rothschild (2) und das Gedicht „Theater in Gurs”

Aus einem Bericht der Konstanzerin Trudy Rothschild, die im Alter von 17 Jahren mit ihrer Mutter nach Gurs deportiert wurde.

Lebensverhältnisse im Camp de Gurs
Wollen wir einmal einen Blick hineinwerfen in dieses Camp. Es hat seinen Namen von dem nächstliegenden Ort Gurs.

Es ist ganz umgeben von den Basses Pyrénées und ist sozusagen eine kleine Stadt, wo es nur Hunger und Elend gibt. Am Eingang und Ausgang des Lagers ist eine Barriere, die nur geöffnet wird, wenn jemand aus dem Lager befreit wird.

Das ganze Camp besteht nur aus Baracken. 24 Baracken zusammen sind ein Ilot. Jedes Ilot ist alphabetisch eingeteilt und mit 4 Stacheldrähten eingezäunt. Das Camp enthalt 12 Ilots, Männer- und Frauenhospital und Sûreté [französische Polizei].

Am Eingang jedes Ilots steht zur Bewachung französische Polizei. Ohne Ticket (das man nur in einem dringenden Fall erhält) darf niemand das Ilot verlassen.

In jedem Ilot ist ein Büro mit Ticketschalter, eine Notküche, eine Infirmerie, zwei Lavabos und 2 neue und 2 alte Latrinen.

Die Notküche hat nur ein Dach aus Blech, und darin stehen 5 große Kessel. Morgens um 5 Uhr wird schon geheizt, und um 8 Uhr gibt es Kaffee, den immer zwei andere von der Baracke holen müssen, und zwar in einem großen Kessel, der sehr schwer ist. Der Kaffee ist zu genießen.

Um 10 Uhr muss das Brot geholt werden und wird in der Baracke verteilt. Pro Person erhalt man 5 cm Brot am Tag. Um 12 Uhr wird das Mittagessen geholt. Man wird barackenweise aufgerufen. Es gibt eine ungenießbare Suppe mit steinharten Erbsen oder Topinambur. Manchmal gibt es etwas Fleisch, abends gibt es dasselbe.

Man wartet den ganzen Tag auf ein Päckchen von guten Freunden, damit man sich zusetzen kann. Die Menschen, die es nicht können, werden verhungern müssen. Es wird viel gespendet, aber bis dies unter 20.000 Menschen verteilt ist, kommt auf den einzelnen kaum etwas.

Will man sich etwas kochen oder warm machen, muss es außerhalb der Baracke geschehen. Aus einer Kilo-Dose lässt man sich ein Holzöfchen machen und feuert mit Papier und kleinen Hölzchen, die man überall findet.

In unserem Ilot ist eine spanische und deutsche Kantine, wo man Feigen, Datteln und Äpfel, manchmal auch etwas Thunfisch kaufen kann. Die Kantinen sind sehr primitiv eingerichtet, und (es) werden immer nur 2-3 Personen hereingelassen. Wenn etwas Frisches eingetroffen ist, dann steht das ganze Ilot, ungefähr 1.200 Menschen davor.

Die Baracken sind alle gleich groß. Sie sind von ca. 50 Personen bewohnt. Jede Person hat ungefähr einen Meter Platz für die Koffer und sonstige Dinge. Dann steht uns pro Person ein Strohsack und 3 Lagerdecken zur Verfügung. Nachdem wir 2 Monate auf dem blanken Boden gelegen sind und Gliederschmerzen hatten, kauften wir uns eine Holzpritsche, die von den Spaniern angefertigt werden.

Das Klima in Gurs ist gut. Es ist meistens föhnig und nur ein paar Wochen im Januar sehr kalt. Schnee gibt es auch nur selten, dafür regnet es aber fast jeden Tag.

Der Boden ist deshalb nicht zu begehen. In den Ilots sind nur Lehmböden, und es ist unmöglich, ohne Gummischuhe zu gehen. Es gibt extra Lagerschuhe zu kaufen (niedere Gummischuhe), man sinkt aber doch bis an die Knöchel ein und bleibt bei jedem Schritt stecken. Ohne Stock kann man unmöglich gehen. Man fällt aber doch fast immer hin und ist dann von Kopf bis Fuß voll mit Lehm. Wer nicht auf die Latrine, Essen oder Wasser holen muss, verlässt die Baracke nicht. Wenn man nicht hinfällt, so hat man doch schon beim ersten Schritt nasse Strümpfe und Füße.

Die Klo-Verhältnisse sind furchtbar. Man verschiebt es, so lange wie möglich. Dann nimmt man einen Stock und Schirm in die Hand, zieht einen Mantel und die Lagerschuhe an. So, nun kann es losgehen! Aber oh weh, der Boden ist ganz aufgeweicht, da es immer regnet. Nun kann man mit dem einen Fuß schon nicht mehr weiter. So vergehen ungefähr 10 Minuten, bis man bei der Latrine angelangt ist. Dann ist es meistens schon zu spät.

Die Latrinen sind regelrechte Brettergestelle voller Schmutz, wo man es vor Zug keine Minute aushält. [...]

Alle Arten von Ungeziefer gibt es in Gurs, wie zum Beispiel Kleider- und Kopfläuse, Flöhe, Ratten und Mäuse.

Obgleich das Licht in den Baracken die ganze Nacht brennt, machen die Ratten und Mäuse jede Nacht ihren Spaziergang. Sie nagen Lebensmittel, Stofftaschen und Kleider an. Sie haben so – trotz Klopfen und Hämmern der Leute die ganze Nacht ihr Spiel und sind nicht auszurotten. Der Lehm ist besonders günstig für sie.

Den Verhältnissen entsprechend sterben sehr viele Leute an Ruhr, Typhus oder verhungern. Wenn man schon schwer krank ist, kommt man in die Infirmerie. Es ist eine geheizte Baracke mit 40 Betten, einem Arzt und 2 Schwestern. Besuchsstunden sind nur montags und donnerstags von 3 – 5 Uhr.

Die Höchstzahl an Beerdigungen ist bis jetzt 18 an einem Tag. Die Menschen werden außerhalb des Ilots an einem freien Platz beerdigt.

Da es am Anfang viel zu viele(n) Menschen (das Leben) kostete, werden alle Leute bis 45 gegen Typhus 3-mal geimpft, und zwar in die Brust. Was dies war, lässt sich nicht schildern. 14 Tage lag man fiebernd mit furchtbaren Schmerzen auf dem Strohsack und beneidete diejenigen, die schon 46 Jahre alt sind. [...]

Kinder mit ihren Eltern kamen [ab Frühjahr 1941] nach Rivesaltes, alte Leute nach Noe und Récébédou.

Trudy und ihre Mutter hatten die Hoffnung auf eine Ausreise schon fast aufgegeben, als sie im März 1942 als zwei der letzten jüdischen Internierten das Einreisevisum für die USA erhielten und am 05.03.1942 über Marseille nach Casablanca und New York eingeschifft wurden.

Aus: Erhard R. Wiehn (Hg.), 1990. Oktoberdeportation 1940. Die sogenannte „Abschiebung” der badischen und saarpfälzischen Juden in das französische Internierungslager Gurs und andere Vorstationen von Auschwitz. 50 Jahre danach zum Gedenken. Konstanz: Hartung-Gorre. S. 170–174

Das folgende Gedicht ist in Gurs entstanden, wo zahlreiche jüdische Künstler*innen versuchten Not und Hunger zu überwinden und mit ihrer Kunst den Mitmenschen Mut und Würde schenkten.

Theater in Gurs

Wir haben in Gurs Theater gespielt, wenn ihr wisst, was das heißt:
Die Welt lag hinter dem Stacheldrahtzaun, wir waren sechstausend Männer und Frauen, arm und entgleist.
Wir haben im tiefsten Elend gelebt, vergessen, verwaist,
in trostlosen Holzbaracken gehaust,
Über uns war der Krieg hinweggebraust – wenn Ihr wisst, was das heisst!
So zauberten wir eine bunte Welt aus Fetzen zumeist,
wir haben gezimmert und nächtelang spät mit eiskalten Fingern Kostüme genäht.
Ihr wisst nicht, was das heißt.
Wir haben ums nackte Leben gespielt, keiner ahnt, was das hieß –
für Ibsen gab es ein Sechzehntel Brot,
für den 'Sommernachtstraum' ein Ei und zur Not eine Handvoll Grieß ...
Wir haben in froststarren Nächten geprobt, halbverhungert zumeist –
wir haben getanzt und gesungen, geweint und gelacht, aber Tausenden Licht und Freude gebracht.
Ihr wisst nicht, was das heißt.
Wir haben die Mutlosen aufgewühlt an Seele und Geist –
haben selbst alle Schmerzen der Menschheit gefühlt: aber wir haben Theater gespielt!
Denkt mal nach, was das heißt!

Aus: Erhard R. Wiehn (Hg.), 1990. Oktoberdeportation 1940. Die sogenannte „Abschiebung” der badischen und saarpfälzischen Juden in das französische Internierungslager Gurs und andere Vorstationen von Auschwitz. 50 Jahre danach zum Gedenken. Konstanz: Hartung-Gorre. S. 189f.