Station 3: Obermarkt – Aus dem Tagebuch von Trudy Rothschild (1)

Bericht von Fritz Ottenheimer, damals 13 Jahre alt

Trudy Rothschild war 17 Jahre alt, als sie 1940 zusammen mit ihrer Mutter nach Gurs deportiert wurde. Kurz nach ihrer Ankunft in Gurs schrieb sie die Erlebnisse auf:


Am 22. Oktober brach es herein, das große Unglück der badischen und pfälzischen Juden. Morgens um 8 Uhr, ich lag ahnungslos im Bett, läutete es, und herein traten 4 Kriminalpolizisten. Auf das Weitere war ich gespannt, doch ich erfuhr es noch früh genug. Mein Atem stockte, als ich vernahm, dass wir von Haus und Hof verjagt werden. Mein erster Gedanke war, der Allmächtige wird uns weiterhelfen.

In einer halben Stunde, so hieß es, müssen wir reisefertig sein, pro Person darf man 2 Handkoffer mitnehmen. Ich packte rasch, so gut ich es in diesem Augenblick konnte, unsere Sachen. Nach einer halben Stunde, die ich nie vergessen werde, waren wir zum Abmarsch bereit. Nun wurden wir in ein Kriminalauto verladen, und weiter ging es zu unseren nächsten Glaubensgenossen. Eine Stunde später waren alle Juden von Konstanz im Petershauser Güterbahnhof versammelt. Auch diejenigen, welche ihr Judentum längst vergessen hatten, mussten in diesen schweren Stunden zurück zu ihrer Religion.

Wir wussten alle nicht, wohin uns das Schicksal schlug, aber dass uns nichts Gutes bevorstand, war sicher.

Alte, Junge, Kranke und Gesunde waren beisammen und warteten von morgens bis nachmittags mit Ungeduld auf die Weiterbeförderung.

Um 5 Uhr wurden wir in einen großen französischen Zug verladen. 7 Personen waren in einem Coupé. Die Bänke waren furchtbar schmutzig und die Toilette ohne Wasser und beinahe nicht zu benutzen. Da hatten wir aber noch keine Ahnung von dem, was uns bevorstand. Doch es war gut so, sonst hätten viele dies Leben rasch beendet.

Das schlimmste Bild auf der Reise war, als wir in Singen ankamen. Da standen Männer und Frauen vom Altersheim und Krankenhaus Gailingen. Keiner blieb verschont, alle mussten mit, alte, gebrechliche, blinde und taube Menschen im Alter von 65–80 Jahren. Das war ein großer Jammer, nicht einmal den alten und kranken Leuten die Ruhe zu gönnen.

Weiter fuhren wir den Schwarzwald hinunter, über Offenburg, Freiburg, Breisach und dann über die französische Grenze.

Inzwischen wurde es Nacht, und wir bekamen Hunger. Zum Glück hatten wir einen kleinen Vorrat von zu Hause dabei, leider hatte niemand Interesse, unseren Hunger zu stillen. Inzwischen wurde es ganz finster, und die Fenster der Bahn wurden verdunkelt. Da im Innern des Zuges auch kein Licht brannte, saßen wir im Dunkeln.

Plötzlich fing der Zug an zu schaukeln, als fiele er jeden Moment um. Leider geschah das nicht.

Die Reise ging weiter durch(s) Elsass. In Mülhausen bekamen wir Suppe und Brot zu essen. Dann wurde bekanntgegeben, dass derjenige, der mehr als 100 Mark bei sich hat, mit dem Tode bestraft wird. Da bekamen es viele mit der Angst zu tun und warfen das restliche Geld in die Toilette. Von Mülhausen ging es weiter nach Belfort, Besançon und schließlich nach Dijon. Dies ist die Grenze zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet. Nachher ging es weiter nach Cette und Lyon. Da stand ein Pater an der Bahn und wollte uns etwas Wasser, was wir die Tage entbehren mussten, bringen. Es waren auch da Stimmen dagegen und gestatteten diesen Luxus nicht.

Der Pater verabschiedete sich mit folgenden Worten: "Ihr armen Tröpfe, lebt wohl!"

Von Lyon aus fuhren wir weiter nach Toulouse, Pau und am 24. abends nach Oloron Ste. Marie. Der Zug blieb da stehen, und wir übernachteten noch einmal darin. Am 25. morgens um 8 Uhr wurden wir ausgeladen. Wir wussten immer noch nicht, wohin es ging. Es schüttete in Strömen. Wir wurden auf offene Lastautos geladen und fuhren etwa 20 Minuten weiter. Es war eine richtige Todesfahrt. Ein Auto um das andere gesteckt voll mit armen, verstoßenen Menschen, fuhr hinein in das berühmt gewordene Camp de Gurs.

Die Herren mussten aussteigen, während die Damen etwas weiterfuhren. Bald mussten auch wir den Wagen verlassen. Was nun, dachte ich, hier können wir unmöglich bleiben! Jedoch wir wurden nicht gefragt.

Hinter Stacheldraht wurden wir geführt. Der Boden lehmig, so dass man bis an die Knöchel einsank. Dann sah man nur Baracken, ganz ganz schlecht gebaut, nur aus Holz, mit lauter Lücken. Wir traten hinein in eine dieser Hütten. Mein Herz begann zu schreien. Hier sollen wir bleiben, nein, sagte ich, da halte ich es keinen Tag aus.

Ein Strohsack neben dem anderen lag auf dem Holzboden. Schmutzige Kinder, zum Teil mit Ausschlägen, sprangen herum, und die Mütter saßen dabei und drehten sich Locken. Es war ein Kindergeschrei, so dass man sein eigenes Wort nicht verstand. Es war ein unmöglicher Zustand. Es waren Flüchtlinge aus Spanien, die bis jetzt diese Baracken bewohnten.

Wir Konstanzer saßen in einer Ecke auf unserem Gepäck, demütig und gedrückt.

Inzwischen bekamen wir eine Reissuppe. Es ekelte mich an, denn 5 Personen sollten aus einem Blechtöpfchen essen.

Ich war ganz verzweifelt, und mein bester Kamerad war das Gebetbuch, da suchte ich Hilfe.

Am schlimmsten jedoch war die Nacht. Wir legten uns mit unseren Decken, welche wir von zu Hause mitnahmen, angezogen auf den schmutzigen Boden. Schlafen konnte ich natürlich nicht, da ich die ganze Nacht an Flöhe und Wanzen dachte, die sich in den Baracken befinden. [...]

Nun mussten wir auf die Suche des Gepäcks gehen, denn wir durften gar nichts bei uns behalten. Nachdem alles Gepäck bei strömendem Regen Tag und Nacht auf der Straße stand, bekamen wir es. Die Koffer waren natürlich fast alle beschädigt und die Sachen zum größten Teil nicht mehr vollzählig. Was konnte man machen, das nackte Leben retten, so dachte ich.
Die Tage waren noch einigermaßen zu ertragen, während die Nächte furchtbar waren. Zwei Nächte lagen wir auf dem Boden ohne Strohsack und Lagerdecken und rechts und links das fremde Volk, In der dritten Nacht bekamen wir dann einen Strohsack und pro Person 2 Lagerdecken. Wir waren schon zufrieden, uns ein Lager bilden zu können. [...]

Man gewöhnte sich auch da bald wieder ein, mit der Hoffnung, dass es doch auch wieder einmal besser für uns wird.

Aus: Erhard R. Wiehn (Hg.), 1990. Oktoberdeportation 1940. Die sogenannte „Abschiebung” der badischen und saarpfälzischen Juden in das französische Internierungslager Gurs und andere Vorstationen von Auschwitz. 50 Jahre danach zum Gedenken. Konstanz: Hartung-Gorre. S. 166–170